Karlstadt

1949 bis 1968

Kindheit und Jugend in Karlstadt

Kindheit und Jugend in Karlstadt

Reinhard Gehret wird am 14. Juni 1949 in Karlstadt als jüngstes Kind von Hedwig (geb. König) und Otto Gehret geboren. Er hat zwei ältere Schwestern, Eva und Gisela. Der Vater, ein überzeugter Nationalsozialist, wird noch vor der Machtergreifung Mitglied der Waffen-SS. Nach langen Kriegsjahren und russischer Gefangenschaft kehrt er 1945 mit einer schweren Kopfverletzung und tief traumatisiert zurück nach Karlstadt. Er hat ständig Kopfschmerzen und kann keine lauten Geräusche ertragen. Die Mutter, die sich schon in seiner Abwesenheit während des Krieges um alles kümmern musste, hat nun drei kleine Kinder und einen gemütskranken Mann, der nur schwer in seinen Vorkriegsberuf als Metzger und Gastronom zurückfindet.

Schwester Eva Endres erinnert sich: „Am liebsten lag der Vater unter einem alten Nussbaum im Garten. Da war es schön ruhig.“ (…) „Wenn es ihm in der Wirtschaft zu laut wurde, schickte er die Gäste einfach nach Hause“.

Mit den drei Kindern, vor allem mit dem verträumten Jungen, weiß er nichts anzufangen. Wenn ihm der Sohn widerspricht, verprügelt er ihn. Die Mutter wird immer häufiger krank – Lungenkrebs, wie man später feststellte. Sie war Nichtraucherin, ihr Leben lang.

Schwester Gisela Gehret: „Unsere Mutter hat die Familie zusammengehalten, kam mit jedem gut zurecht, hatte viel Weisheit & Understanding. Sie wusste, den Vater zu nehmen (…) er hat sie sehr geschätzt und in meiner Ansicht haben sich beide sehr respektiert. Das war ja keine Hollywood-Ehe, es war Nachkriegszeit, man war froh, dass er vom Krieg heimkam. Sie hat verstanden, was sich innerlich mit ihm tat, hat öfters mal den Pfarrer geholt, wenn alles schwierig war. Es ist vollkommen klar, dass sie in der Ehe viel gegeben hat (…) seine Familie, seine Schwestern, sein Vater (…) das war alles nicht leicht für sie (…) die waren eine andere Sorte. Sie kam aus einer Familie, die Güter hatte und Geld, und die Kleinlichkeit der Gehret Familie war manchmal zu viel für sie. Aber mein Vater hat auf sie gehört und sie haben einander gerne gehabt.“

Während seiner ersten Lebensjahre wird der junge Reinhard hauptsächlich von Hilde Schmidt, einer Cousine des Vaters, in Karlstadt betreut. Zu dieser „Tante Schmidt“, die ihn freundlich behandelt und fördert, entwickelt er eine tiefe, lebenslange Zuneigung.

Schwester Gisela Gehret: „Als er im Kindergartenalter wieder zu uns ins Haus kam, ging es von Anfang an nicht gut. Mein Vater hat ihn als weich angesehen und all seine Kriegserfahrungen haben da agitiert. Man kann nicht weich sein, wenn man überleben will.“

Nach der Grundschule schicken ihn die Eltern 1960 in das katholische Internat und Gymnasium „Weiße Väter“ nach Amberg in der Oberpfalz. Ein Jahr später stirbt die Mutter und Reinhard kommt zurück nach Karlstadt, wo er die Realschule besucht.

Schwester Eva Endres: Für meinen Vater war er nur der Versager, der nicht mal in der Schule zurechtkommt und praktisch auch nicht und renitent ist, wenn er was sagt, und nicht folgt. Ich hab das erst später mitgekriegt, aber er hat ihn richtig gequält. Er hat ihn mal zusammen mit Schweinen in den Schweinestall gesperrt, damit er ein Mann wird – Grauenhaft.”

Am 10. Februar 1965 schreibt Reinhard Gehret in sein Tagebuch: „Wir haben eine Ex geschrieben, auf die ich eine 6 kriege. Ich bemühe mich schon, die Unterschrift nachzumachen. Vielleicht lege ich mich nachher unter die Eisenbahn.“

Am 3. März: „Wieder einmal habe ich mir bewiesen, was für ein Feigling ich bin. Ich legte mich auf die Schienen. (…) Ich blieb aber nicht liegen, ich wußte ja, daß ich mich nicht traute.“ (…) Eigentlich, wenn ich jetzt Tagebuch führe, denke ich doch daran, das Geschreib‘ in hohem Alter einmal wieder zu lesen. Da kommt ein Selbstmord ziemlich dazwischen. Heute beim Fernsehn habe ich mich umgestimmt. Gerade war Nudelreklame, da hatte ich so große Lust auf Nudeln oder Spätzle mit Soße und dachte, daß ich, wenn ich tot bin, keine Spätzle mit Soße mehr essen kann und das ist doch nicht angenehm.“

Schlechte Noten und „aufmüpfiges Verhalten“ bringen ihn von der Realschule an die Hauptschule, die er mit dem regulären Abschluß beendet. Einer seiner Lehrer, Gerhard Kuhn erkennt seine Intelligenz und künstlerischen Fähigkeiten und fördert ihn in dieser Zeit.

Eine neue Mutter
Der Vater heiratet Maria S., eine Metzgerswitwe mit fünf fast erwachsenen Kindern, neben denen der junge Reinhard einen schweren Stand hat. Er streitet viel mit seinem Vater und der neuen Familie. Die beiden älteren Schwestern hatten da Karlstadt bereits verlassen.

Schwester Gisela Gehret über einen Besuch in Karlstadt: “Wir haben gespürt, von Anfang an, daß sie andere Ziele hatte…ihre eigene Familie, ihre Töchter (…) all das war eigenartig für uns. Ich war damals schon aus dem Haus, in München, aber Männe war zuhause. (…) Während früher alles offen war und wir uns holen konnten was wir brauchten, zum Essen, Maria hat alles abgeschlossen. Das war sehr schockierend und seltsam. Der Vater war keine Hilfe, der hat sich gefreut, dass sein Leben wieder in Ordnung war“.

“Männe”, wie Reinhard von allen genannt wird, beginnt gegen seinen Willen eine Ausbildung als Speditionskaufmann in Würzburg. In der Firma hält er es nicht lange aus, wird entlassen und arbeitet dann als Hilfsarbeiter im Würzburger Hafen und bei der „Main-Post“ in Würzburg. Nach einem heftigen Streit mit dem Vater schreibt er ins Tagebuch: „Er sagte, ich fühle mich als Märtyrer oder sowas ähnliches. Ich sagte: Stimmt. Einen kurzen Augenblick wollte er in seinem Schimpfen weiterfahren, dann sprang er auf und ging auf mich los. (…) Am meisten störte ihn mein Gesichtsausdruck, der ihn immer wieder wild machte. (…) Um richtigzustellen: Als Märtyrer fühle ich mich nicht, vielmehr weiß ich, daß meine jetzige Umgebung nicht zu mir paßt und daß ich mit ihm, so früh wie es geht, nichts mehr zu tun haben möchte.“ Dies war die letzte Aufzeichnung vor seinem Suizidversuch.

Januar 1967
Reinhard schießt sich mit einem Bolzenschussapparat in den Kopf. Es ist das Werkzeug des Vaters. Er überlebt, wie durch ein Wunder, die neunstündige nächtliche Notoperation. Der Schädel war geplatzt durch die Wucht des Bolzens, mußte erst aufgeklappt, dann wieder zugeklappt werden. Gaze in den Spalten und in der Nase. Das er nach mehrtägigem Koma wieder ins Bewußtsein zurückfand, war für die Ärzte ein Phänomen. Sein rechtes Auge ist blind, Geruchs- und Geschmackssinn sind beeinträchtigt und er hat von nun an Diabetes. Für den Vater und die Stiefmutter ist der Selbstmordversuch eine „Schande“, beide strafen ihn mit Verachtung. Während seiner mehrmonatigen Rekonvaleszenz fasst er den Entschluss, nach Berlin zu gehen.

Schwester Eva Endres: „Später hat er gesagt, er ist so froh, dass er davongekommen ist.
In dem Moment hat er gewusst, er will leben, aber raus. Dann hat er eben, sobald er wieder konnte, im Hafen als Hilfsarbeiter gearbeitet, hat das Geld zusammengespart, und als er genügend hatte, dann hat er sich verabschiedet. Ich habe ihm noch in Würzburg – so naiv war ich – einen hellblauen kleinen Kochtopf gekauft, und hab ihm gesagt, du musst doch in Berlin auch kochen und hab ihm noch den Kochtopf mitgegeben.“

So steigt Reinhard Gehret im Sommer 1967 in den Nachtzug nach Berlin – lebenshungrig, neugierig und mit dem hellblauen Kochtopf von Schwester Eva.

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