Berlin

1968 bis 1986

Leben in Berlin

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Berlin

Berlin 1967 ist eine Stadt in Aufruhr. Die Proteste gegen den Besuch von Mohammad Reza Pahlavi den damaligen Schah von Persien, gegen den Vietnamkrieg, gegen die alten Eliten des untergegangenen Dritten Reiches, die immer noch in vielen Führungspositionen saßen, finden praktisch vor seiner Haustür statt. Alte Gesellschaftsnormen werden hinterfragt und neue Gesellschaftsformen ausprobiert. Größer könnte der Unterschied zum beschaulichen, katholisch konservativen Leben in Karlstadt kaum sein. Er findet schnell Anschluss, Freundinnen und Freunde, die denken wie er. Am liebsten diskutiert er mit ihnen über Literatur.
Anfangs lebt Reinhard Gehret in einer Altbauwohnung in Wedding, dann mit Freunden in besetzten Häusern in Kreuzberg und schließlich in Schöneberg in der Crellestraße 17, einer kleinen Wohnung im 4. Stock.
Er besucht die Silbermann-Schule, eine Abendschule, die er mit dem Abitur abschließt. Da das gesparte Geld schnell aufgebraucht und er – ohne Unterstützung der Familie – so gut wie mittellos ist, arbeitet er tagsüber als Hilfskraft in verschiedenen Gelegenheitsjobs, immer wieder auch in Druckereien. Nach dem Abitur studiert er italienisch und Linguistik an der Freien Universität Berlin, belegt Kurse für Esperanto1 und alte Sprachen. Nach vier Semestern bricht er das Studium ab und widmet sich von nun an ganz dem Schreiben.

Reinhard Gehrets Geschichte führt nun immer tiefer hinein in das unstete Leben der Berliner Literaturboheme, der unablässig erblühenden und wieder schließenden, sich gründenden und spaltenden Selbstverlage und Zwergeditionen, der Literaturoffensiven und Schreibzirkel der „Kreuzberger Untergrundliteraten“.
Berlin, Winterfeldtstraße 36, dessen Fassade sich heute in adrettem Orange in den aufpolierten Kiez fügt, war ein besetztes Haus, als man 1981 hier das Literaturcafé gründete, in dem schon bald Gehret und viele andere ihre Texte vorlasen und besprachen. „Reinhard fiel nicht weiter auf, es sei denn durch sein von der allgemeinen Neigung zum anerkennenden Schulterklopfen abstechenden Bedürfnis, hart zu kritisieren und kritisiert zu werden“, sagt der Freund und Veranstalter Horst Walter Krowinn über ihn.

Reinhard Gehret führt ein äußerst spartanisches Leben. Er heizt mit Briketts und Holzabfällen. Neben dem Ofen hängt stets eine große Säge. Sein Fahrrad schleppt er jeden Abend über steile Stufen in seine Wohnung im vierten Stock. Fahrraddiebstahl ist eine Plage in Berlin, wie der Hundekot auf den Straßen. Jeden Pfennig (zum Schluß werden es mehrere zehntausend Mark sein) legt er für die Realisierung seines Traums zurück: „Das Bild von einem Haus im Süden: hell, luftig; mit weiß gekalkten Wänden und in der schönsten Ecke der Schreibtisch mit allen Utensilien. Hermann Hesses Montagnola kenne ich nicht; davon habe ich nicht einmal ein Photo gesehen. Aber ich stelle es mir ideal vor, für meine Bedürfnisse.“ schreibt er in sein Tagebuch.

Durch einen Schreibkurs 1984 in Berlin und ein Literaturseminar in Dorstadt bekommt er Kontakt zu Paul Schuster, einem in Berlin lebenden rumänischen Schriftsteller im Exil, der sich mit Kursen in literarischem Schreiben seinen Lebensunterhalt verdient. In kurzer Zeit wird Schuster ein väterlicher Freund und Förderer, der Gehret auch mit vielen anderen Schriftstellern und Literaten zusammenbringt.

Aus dem Tagebuch:
„Ich habe die Decke über mich gezogen & die Augenlider.
Und ich warte ein wenig
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bis die Wörter kommen
Buchstabenbilder mit angeheiratetem Lautwerk

und Wortfühler
und Wortgliedmaßen
Assoziationen und anderes Spielzeug
Bewustsstseinsreste und vergessenes Wissen
Nur nachdenken darf man nicht.
– Sonst biste gleich wieder wach.“

Schreiben ist für ihn ein Weiterträumen auf dem Papier, die große, ganz große Freiheit. Gehret schreibt dadaistische und surrealistische Textgebilde, die er selbst „Fölmene“ nennt. Er schreibt jeden Tag. Diese zwei bis zehnseitigen Texte waren Vorarbeiten, Stücke, an denen er für Größeres lernen, Werkzeuge, mit denen er sich hinuntergraben wollte ins eigene Innenleben. „Mit Fölmenen“, schreibt er, „finde ich den Weg nach unten.“

Gehret sammelt Material dafür, wo er kann, schneidet heimlich alle möglichen Gespräche auf seinem Tonband mit, das er mal in einem Backofen, mal in der Tasche versteckt, nimmt Radiosendungen auf, spricht seine Halluzinationen während eines LSD-Rausches ins Mikrophon, spielt mit Zuständen von Über- und Unterzucker, um die Bewusstseinszustände dabei zu protokollieren, raucht viel Tabak und Haschisch, liest Berge von Zeitungen und Büchern. Er saugt Leben auf und sondert es in neuer Form wieder ab – wie in Trance. Mit dem Kassettenrekorder in der Hand läuft er durch die Straßen und diktiert mit fränkischem Akzent, manchmal atemlos keuchend, kurze Texte, die er als „Dikdale“ bezeichnet. Absurde Geschichten sind das, von Tanzlehrerministerien und Belobigungsbüros, Texte, die wimmeln von Schwarzwurzeltänzerinnen und Maikäferlikör, von hysterischen Räderwerken, aufgewiegelten Zahnreihen, Daunengebirgen und Darmgeschmeide.

In den Sommermonaten fährt er alle paar Jahre – wenn es seine Finanzen erlauben – per Anhalter in die europäischen Nachbarländer, unter anderem nach Italien und Frankreich. Über eine Reise nach Lourdes schreibt er: „Ich wollte verstehen, warum Menschen glauben, aber leider hat es sich mir nicht erschlossen“. Auch auf den Reisen hat er immer einen Kassettenrekorder dabei und spricht seine Eindrücke und Gedanken auf Band, meist beim Trampen, während er darauf wartet, dass ein Wagen anhält.

Einmal besucht er seine Schwester Gisela in den Vereinigten Staaten. Sie erzählt: „Reinhard kam zu mir nach Berkeley, California, auf Besuch – so ungefähr 1980. Er blieb bei uns im Ashram für einige Monate, hat uns geholfen, hat mit den Kindern gespielt. Dann ging er auf eine Reise mit dem Greyhoundbus Richtung Süden. Ihm hat das gemeinsame des Ashram-Lebens gut gefallen, aber nicht genug um dort zu bleiben. Alle mochten ihn gern. Da lebten leicht 20 Menschen in unserem vierstöckigen alten Haus in der Nähe der Berkeley University. Hier war immer was los. Er hat etwas Geld verdient mit „odd jobs“ und das hat er mir dann gegeben.
Ich habe mich echt gefreut, denn damals hatten wir nicht viel. Mein ältester Sohn, der zu der Zeit fünf Jahre alt war, hing sehr an ihm.“

Am 29. März 1986 soll er in einer von seinem Freund Horst Walter Krowinn organisierten „Literaturnacht“ vor großem Publikum lesen. Diese Aussicht beherrscht und beflügelt ihn. Aus dem Tagebuch: „Seltsam, wie mir der Gedanke an die Lesenacht die Glut ins Gesicht treibt! Ich werde lesen! Und ich will alle in den Schatten stellen.“ (…)„Mit dem, was ich bisher in der Mappe habe, traue ich mir nicht zu, die anderen Autoren der Literaturnacht in den Schatten zu stellen. (…) aber in meinen 14 Ordnern stecken genug Inventiones, um nicht nur während der Literaturnacht den Vogel abzuschießen.“ Dies schreibt er im Krankenhaus. Schon Anfang März war er zur Notaufnahme eines Berliner Hospitals gebracht worden, nachdem er seiner Schwester Eva telefonisch mitgeteilt hatte, er habe eine schwere Grippe, hohes Fieber, könne weder gehen noch stehen. Sie hatte daraufhin von Dillingen aus die Rettungsleitstelle in Berlin angerufen und seine Überführung veranlasst. Das St. Joseph-Krankenhaus nimmt ihn jedoch nicht auf, da sein Zustand „nicht lebensbedrohend“ sei.

Gehret liegt dann noch zwei Tage und Nächte apathisch in seiner Wohnung, landet schließlich doch, mit doppelseitiger Lungenentzündung und völlig entgleistem Stoffwechsel im Grunewald-Krankenhaus. Seinem Drängen folgend, entläßt man ihn auf eigene Verantwortung am Tag der Lesung, die er sehr geschwächt aber mit großem Beifall hinter sich bringt. Seinen letzten Tagebuchaufzeichnungen ist zu entnehmen, daß er seine Blutzuckerwerte nicht mehr in den Griff bekommen hat. Wahrscheinlich sank er langsam in ein Koma, desorientiert durch abnehmenden Blutzucker, geschwächt durch fehlende Nahrungsaufnahme.

Reinhard Gehret stirbt im April 1986, mit 36 Jahren in der Anonymität der Großstadt, in die er geflüchtet war. Man fand ihn in seiner Wohnung, vor dem Schrank mit den Insulinspritzen, auf dem Rücken liegend, die Arme ausgebreitet, sein Gesichtsausdruck war ruhig und entspannt.

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